Ignatz Bubis war einige Jahre lang der Vorsitzende des Zentralrates der Juden in Deutschland. Bei einem Symposium hat er einmal die Geschichte von mehreren Rabbinern erzählt, die eine ganze Nacht durchdiskutiert haben, warum Gott ihrem Volk so viel Unheil zugemutet hat. Manche Redner waren sehr leidenschaftlich in ihren Anklagen gegen Gott. Alle bewegte die Frage des Leides. Nach vielen Stunden schaute einer von ihnen aus dem Fenster. Er drehte sich zu den anderen und sagte: „Meine Herrn, die Sonne geht auf. Es ist Zeit zu beten.“ Und alle haben angefangen zu beten.

Warum beten wir?

Verstehen wir das Gebet als eine Art himmlische Kranken- und Unfallversicherung? Wenn wir unseren Beitrag leisten (genug beten), dann müssten wir gegen alle Gefahren abgesichert sein? Diese Begründung für das Gebet kann schnell ins Wanken geraten. Menschen werden krank. Unfälle passieren. Und unsere Gebete werden nicht immer beantwortet, wie wir uns das wünschen. Wie können wir dann Gott verstehen? Wie können wir noch glauben?

Vielleicht haben die Rabbiner, von denen Ignatz Bubis erzählt hat, den Psalm 38 im Sinn gehabt. In diesem Psalm erfahren wir, dass David sehr leidet.
„2 Herr, strafe mich nicht in deinem Zorn und züchtige mich nicht in deinem Grimm!
3 Denn deine Pfeile haben mich getroffen, deine Hand lastet schwer auf mir.
4 Nichts blieb gesund an meinem Leib, weil du mir grollst; weil ich gesündigt, blieb an meinen Gliedern nichts heil.“

Leid und Krankheit lassen ihn nicht los und sie haben eine Ursache: Sünde. Meint David, dass sein Leiden von bestimmten Sünden stammt oder dass der gefallene Zustand der Welt die Ursache seines Leides ist? Wir wissen es nicht. Der Psalm bietet keine Antworten auf unsere philosophischen Fragen. Aber dieser Psalm ist nicht da, um Fragen zu beantworten.

Dieser Psalm zeugt von einem tiefen Glauben, der Gott als Ursache und Antwort sieht. Das mag uns unlogisch erscheinen. Die Antwort, die dieser Psalm uns bietet, liegt nur in der Tatsache seiner Existenz: Der Psalmist betet trotz seiner Verzweiflung weiter. Er redet zu einem Gott, der souverän ist in seinem Handeln, der unbegreiflich ist in seiner Größe und dem die Sünde ein Gräuel ist. Aber im Vers 10 finden wir unseren Monatsspruch: „All mein Sehnen, Herr, liegt offen vor dir, mein Seufzen ist dir nicht verborgen.“
Trotz der Größe Gottes und trotz der Trennung zwischen Gott und ihm, die die Sünde verursacht hat, dieser Gott sieht ihn. Dieser Gott hört ihn. Diesem Gott vertraut er, dass er Heilung bringt.

Häufig fällt es uns schwer, das ‚Dennoch‘ in unserem Glauben zu finden. Wir sind bereit hinzuwerfen, weil das Leben nicht einfacher wird. Wir fragen, warum Gott so weit weg ist, nur um festzustellen, dass er die ganze Zeit bei uns war. Wir beten, weil wir wissen, dass er hört, auch wenn wir ihn nicht sehen. Oder, wie David es in Vers 16 sagt: „Doch auf dich, Herr, harre ich; du wirst mich erhören, Herr, mein Gott“

Meine Damen und Herrn, es ist Zeit zu beten.

Karl Flentje