Einer teilt reichlich aus und hat immer mehr; ein anderer kargt, wo er nicht soll, und wird doch ärmer. (Spr. 11, 24)

„Es gibt einen, der streut aus, und dennoch hat er am Ende mehr; aber wer allzu sehr spart, dem gereicht’s zum Mangel. Was ist das?“

Im alten Israel gab es kein Kind, das nicht die Antwort gewusst hätte: Es ist der Sämann,
der im Frühjahr den aufgesparten Vorrat an Samen mit vollen Händen auf das Feld wirft. Es folgen Monate voller banger Erwartung. Vögel könnten die Samenkörner herauspicken. Ein Sturzregen könnte sie wegspülen. Fällt zu wenig Regen, verdorrt die Saat. Es gibt eigentlich mehr Gründe für ein Misslingen als für einen Erfolg. Und dennoch weiß jedes Kind, dass auf die Zeit des Wartens die Erntezeit folgt. Wer vor lauter Sorgen sein Saatgut sparen wollte, hätte die Ernte von vornherein verloren. Aber einen so törichten Menschen können sich die Kinder gar nicht vorstellen. Es ist so einfach und zugleich so erstaunlich: Wer nicht weggibt, was
er hat, hat am Ende gar nichts.

Es ist nicht falsch, wenn wir bei der Bedeutung von Spr. 11,24 für uns heute an die christliche Tugend der Großzügigkeit denken, zumal der Apostel Paulus in 2.Kor. 9,6 in diesem moralischen Sinn auf unseren Monatsspruch anspielt. Einen angemessenen Teil des Einkommens für die Verkündigung und die Liebestätigkeit der Gemeinde Christi zu spenden, ist eine gute Übung der Frömmigkeit. Es ist jedoch noch niemand durch seine Tugenden oder seine Spenden zu einem Kind Gottes geworden. Das vermag nur der Glaube an das Evangelium von Jesus Christus.

Jesus selbst legte daher die alten Bauernweisheiten von Saat und Ernte auf noch grundsätzlichere Weise aus. Vom Sämann, der zur rechten Zeit all sein noch vorhandenes Korn vertrauensvoll mit vollen Händen auswirft, sollen die Jünger Jesu den Umgang mit dem Evangelium und der erkannten Wahrheit lernen. Nicht die Wahrheit für sich zu behalten, sondern sie den Menschen anzuvertrauen, wird reiche Frucht bringen. Nicht die sind selig, die Recht haben und behalten wollen, sondern die darauf vertrauen, dass Gottes Wort durchs Loslassen und Weitergeben seine Wirkung entfaltet (Mt. 13,1-9; 25,14-30). Und schließlich ist es Jesus Christus selber, der sein Werk in dieser Welt nicht durch seine Lehre, seine Wunder und seine Lebensführung ausgerichtet hat, sondern durch die völlige Hingabe in den Tod für andere.

Wer in ihm nur einen weisen und gerechten Lehrer, einen der Großen der Menschheit, sehen will, der versteht das Geheimnis der Person Jesu nicht. „Wenn das Weizenkorn nicht in die Erde
fällt und erstirbt, bleibt es allein; wenn es aber erstirbt, bringt es viel Frucht“ (Joh. 12,24). Es ist so einfach und doch so erstaunlich: Der alle Welt umfasst, hat sich für uns gegeben. Er ist der Herr. In ihm haben wir Leben.

Prof. Dr. Martin Rothkegel
Professor für Kirchengeschichte am Theologischen Seminar Elstal (Fachhochschule)