Gott spricht: Nur für eine kleine Weile habe ich dich verlassen, doch mit großem Erbarmen hole ich dich heim. Jes 54,7

Mit welchem Zeitgefühl leben Sie? Nach meinem Eindruck sind viele Menschen, ja unsere Gesellschaft von Schnelligkeit geprägt. Wir leben in einer Instantgesellschaft. Alles kann ganz schnell gehen. Auf Knopfdruck. Im Fertigbeutel. In rasender Geschwindigkeit. Was „kurz“ und „lang“ dauert, ist dabei relativ,
eine Frage des Betrachters. Die Adventszeit mit ihrem jährlichen Rhythmus von vier Wochen bis zum Heiligen Abend wird gestreckt, indem die ersten Adventsnaschereien schon im September in den Supermärkten angeboten werden und der Nikolaus schon mal im Oktober beim Bäcker als Dekoration aufgestellt wird, damit sich die Anschaffung auch gelohnt hat. Und zugleich ist die Adventszeit für manchen immer zu kurz, um anzukommen.
Anzukommen bei sich selbst, seinem Nächsten oder etwa bei Gott.

Der Monatsspruch für Dezember stellt unterschiedliche Perspektiven einander gegenüber: Was ist kurz und was ewig? Was ist klein und groß? Dabei spricht das Bibelwort aus dem Propheten Jesaja nicht aus der Sicht des
Menschen, der im Rückblick auf seine Leidenszeit reflektiert betet wie Psalm 30,6: „Denn sein Zorn
währet einen Augenblick und lebenslang seine Gnade. Den Abend lang währet das Weinen, aber des Morgens ist Freude.“ Sondern Jesaja 54 verspricht aus göttlicher Perspektive zunächst Israel eine verheißungsvolle Zukunft: Die Zeit der Zerstreuung – im babylonischen Exil – dauert nur „kurz“, in Aussicht steht Sammlung und Heimkehr. Die Wende der Zeiten von damals und morgen geschieht dabei in Gott selbst. Gott entscheidet sich, sein fremdes Werk, seinen Zorn in Zaum zu halten und zu begrenzen, ihn klein zu halten. Gott als
Ehegatte verlässt – bildlich gesprochen – seine Braut nicht für lange Zeit, sondern will sie nach Hause holen, er kann sie nicht verstoßen (Jes 54,6). Und Gott lässt sein Erbarmen groß werden.

Erbarmen ist die Aufmerksamkeit des Herzens. Das hebräische Äquivalent für das deutsche Erbarmen (racham) ist im Wortstamm verwandt mit dem Begriff Mutterschoß (raechaem) – Erbarmen ist mit Emotionen und Leidenschaft für Hilflose und Angewiesene verbunden. Gottes Leidenschaft ist groß, wenn es darum geht, Zukunft zu ermöglichen. Israel war im babylonischen Exil angewiesen auf Hilfe von außen, um neue Perspektiven des Glaubens und des Lebens zu entwickeln. Es war nicht alles schlecht beim Leben in der
Zerstreuung, aber eine tragende Bewegung hoffte darauf, wieder nach Hause kommen zu können.

Die Adventszeit bietet viele Möglichkeit der selbstgewählten Zerstreuung. Wir können diese Zeit
schnell abhaken, ohne bei uns selbst, beim Nächsten oder gar in Gottes Gegenwart anzukommen. Gott möchte Menschen aus der Zerstreuung zu sich nach Hause holen und sammeln. In Jesus Christus möchte Gott alle Menschen bei sich haben. Wenn es wieder heißt: „denn euch ist heute der Heiland geboren, welcher
ist Christus, der Herr“ (Lk 2,11), laden christliche Gemeinden zum Geburtstag der Barmherzigkeit Gottes mit allen Menschen ein. Nehmen Sie sich dafür Zeit, ruhig mehr als letztes Jahr!

Michael Rohde

Prof. Dr. Michael Rohde unterrichtet Altes Testament am Theologischen Seminar Elstal (FH).
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